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Groebels Gespenster
Was haben der Philanthrop und Privatsekretär des
konservativen britischen Premierministers Benjamin Disraeli, Baron Rowton (1838–1903), der Revolutionär und spätere Diktator Josef
Stalin (1878–1953) sowie die Schriftsteller Jack London (1876–1910) und Georg
Orwell (1903–1950) gemein? Allein ihre sich teils nur kaum überschneidenden
Lebensspannen lassen eine Begegnung mehr als unwahrscheinlich erscheinen, und
auch wenn der bekennende Sozialist Orwell den „reale Sozialismus“ Stalinscher
Prägung in seinen Werken verurteilte, ist nicht überliefert, inwieweit das
jeweilige Wirken den Protagonisten untereinander bekannt war. Dennoch
überkreuzen sich ihre Lebenswege an einem Punkt, geben sie sich ein
imaginäres Stelldichein im sogenannten Tower House im armen Londoner East
End. 1902 von Baron Rowton als neuer Typus eines „Working men's hostel“,
als Tageswohnheim für obdachlose
Arbeiter gestiftet, nächtigten hier unter anderen Jack London, Stalin und
Orwell. Während Stalin, der sich hier während des 5. Kongresses der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands 1907 aufhielt, dies in seinen
Memoiren nicht erwähnte, bereiteten London und Orwell ihre Erfahrungen
journalistisch und schriftstellerisch auf. Der eine in seiner
Undercover-Reportage über die Londoner Slums, The People of the Abyss
von 1903, der andere 1933 in Down and out in Paris and London. Safe from Demons betitelt
Matthias Groebel sein jüngstes Projekt, in der er die verzweigten Wege der
Genannten zusammenführt. Doch sicher vor Dämonen scheint die Gegenwart
keineswegs zu sein, werden doch die Schatten der Vergangenheit, wie in
jüngeren Zeitungsartikeln über die Zukunft des Gebäudes geschehen, immer
wieder beschworen. Dienen sie, wie Marx’ Gespenster, mal als Referenz auf die
Idee der sozialen Gerechtigkeit, die durch eine Luxussanierung des seit
einigen Jahren leerstehenden Hauses konterkariert würde, sichert die Nennung
dieser Namen unter journalistischen Gesichtspunkten in jedem Fall
Aufmerksamkeit. Welche Dämonen oder Gespenster angerufen oder verdrängt
werden, ist bekanntermaßen immer auch eine Frage des Interesses, die
Vergangenheit eine permanente Erfindung der Gegenwart.
Matthais Groebel folgt in seinen Bildern, Videos
und Künstlerbüchern gerne auch obskuren Geschichten und Überlieferungen, etwa
wenn er in seiner Ausstellung Collective Memories im Jahre 2003
Aufnahmen aus der Goldenen Kammer von St. Ursula in Köln und aus dem Musée
Royal de l’Afrique Centrale im belgischen Tervuren zu Motiven in der
Tradition des Totentanzes verdichtete; oder wenn er in seiner Videoarbeit Raymond
frei zugängliches Audiomaterial eines Professors für Kinderpsychiatrie und
ein Interview mit Blackhawk, einer schillernden New Yorker Figur aus
dem Umfeld der neuen Medien, zu einer Parabel über Verschwörungstheorien
assoziiert. Immer geht es Groebel hierbei um die Frage, wie Erzählungen
entstehen, Fiktion und Realität sich mischen, welcher Medien und
Überlieferungstechniken sie sich bedienen. Im Falle des Tower Houses weckte
der beiläufige Hinweis eines Freundes beim Spaziergang durch London sein
Interesse, die Initialzündung erfolgte demnach im wohl ältesten Modus der
Überlieferung, der mündlichen Erzählung. Alle weiteren Materialien und
Quellen, die in seinem Künstlerbuch Safe from Demons zusammengestellt
sind, fand Groebel im Netz. Sein Wissen über das Gebäude und dessen
historische und gegenwärtige Hintergründe ist durch diesen Filter gelaufen,
einschließlich möglicher Übertragungsfehler und Verfälschungen. Geschichten
ohne Gewähr, sozusagen. Matthias Groebel überträgt in seinem Buch just jene
Quellen handschriftlich, die neueren Datums sind, nämlich zwei
Zeitungsartikel über die geplante Sanierung des Hauses im Guardian und
Observer. Dieses fast mittelalterlich anmutende Prinzip der
Reproduktion von Texten stellt die Abfolge vermeintlich „alter“ und „neuer“
Medien auf den Kopf, ein Prinzip, das seinen künstlerischen Ansatz
grundsätzlich kennzeichnet. So ist auch jene sechsteilige Bildgruppe, auf der
das Tower House zu sehen ist, das Ergebnis vielfacher medialer Übersetzungen.
Festgehalten mit einer Stereokamera, wählte Groebel aus dem aufgezeichneten
Material Standbilder aus, bearbeitete sie am Computer und übertrug sie
mittels einer eigens dafür entwickelten Malmaschine auf Leinwand, indem eine
rechnergesteuerte Airbrushpistole Acrylfarbe in mehreren lasierenden
Schichten übereinander sprüht. Der Computer ersetzt die Hand des Künstlers,
wie auch die einst damit verknüpften Vorstellungen von Authentizität und
Originalität längst verabschiedet sind. Die Erkenntnis, dass Malerei, wie jedes andere
Medium der Bilderzeugung, ein durch technische Hilfsmittel immer schon vermitteltes
ist, ist natürlich nicht neu. Der Prozess der Distanzierung, der mit dem
Erkennbarwerden des Apparats verbunden ist, wird in den neueren Bildern von
Matthias Groebel insbesondere auch durch den Einsatz der Stereokamera betont.
Die Stereokamera, die parallel zwei fast identische Bilder aus minimal
verschobener Perspektive aufzeichnet, organisiert den Bildraum nicht mehr
zentral-, sondern mehrperspektivisch. Man wird, wie Bernd Stiegler über die
Stereoskopie bemerkte, „mit der Fremdheit eines anderen Blicks auf die
Ordnung der Dinge konfrontiert. Die Bilder erscheinen uns keineswegs als
Simulakren der Wirklichkeit, sondern als Kulissen und Staffagen eines
Theaterraums mit Tiefe, aber ohne Körperlichkeit, als flächige Figuren, die
im Bildraum arrangiert sind.“1 Sie werden zu Bühnen, auf denen
einzelne Protagonisten, etwa die beiden Passanten, ihren Auftritt haben.
Bemerkenswert ist, dass ein auf den ersten Blick
kohärentes Bild entsteht – trotz der doppelten Distanzierung der Wahrnehmung
durch den Einsatz der Stereokamera wie der Malmaschine, ohne die eine derart
präzise Motivwiederholung kaum möglich wäre. Die fast identische Verdoppelung
der Bildelemente fällt nicht unmittelbar auf, zumal der Künstler die
Nahtstellen nicht weiter betont. Wir begegnen hier einem bekannten
wahrnehmungs-psychologischen Muster: Bei allem Wissen um die Vermitteltheit unseres
Blicks und dem immer vorhandenen Abstand zur Realität sind wir nur allzu
bereit, der vermeintlichen Kohärenz der Bilder Glauben zu schenken. In Tower House führt Matthias Groebel ein
weiteres Element ein, nämlich das der Zeit. So sind zwischen den Aufnahmen
für die linke und für die rechte Bildergruppe circa eineinhalb Jahre
vergangen. Zeigt die linke Bildersäule das verlassene und bereits etwas
heruntergekommene Gebäude, dessen früherer Zweck ohne weitere Informationen
verborgen bliebe, weist es in der rechten Bildgruppe weitere
Verfallserscheinungen auf, etwa jenen Poller, der jetzt in der Ecke des
Eingangs lehnt. Doch nun ist das Gebäude eingerüstet, das Banner des
Investors verweist auf seine zukünftige Nutzung. Verschiedene Zeitebenen und
Perspektiven sind übereinandergeblendet und die Dämonen der Zukunft bereits
zu erahnen. Astrid Wege Anmerkung Bernd Stiegler, Theoriegeschichte
der Photographie, München 2006, S. 67
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