Der Examinator "Von heute an ist die Malerei tot" soll der
französische Maler Paul Delaroche beim Anblick einer Daguerreotypie 1839
ausgerufen haben. Die Entdeckung Daguerres (und einiger Zeitgenossen), mit
Hilfe einer Camera obscura und einiger chemischer Zutaten ein exaktes Spiegelbild
der materiellen Wirklichkeit zu fixieren, scheint das Selbstverständnis des
Malers zumindest für einen Augenblick radikal erschüttert zu haben. Aber trotz
des Schocks, den Delaroche bei der Begegnung mit dem neuen Medium Fotografie
empfand, setzte er bald seine sehr erfolgreiche Karriere als Portrait- und
Historienmaler fort. Seitdem ist die Geschichte der Malerei weithin
geprägt von der Existenz anderer bildgebender Verfahren, ohne daß diese jedoch
letale Auswirkungen auf die Malerei gehabt hätten. Schon bevor das
fotografische Bild chemisch fixiert werden konnte, bedienten sich Künstler wie
Vermeer und Canaletto nachweislich der Carnera obscura für die Komposition
ihrer Gemälde. Die Malerei hat sich als fähig erwiesen, sich die Wirkungsweisen
jüngerer Medien für ihre Zwecke anzueignen, sie sichtbar zu machen und zu
kommentieren. In den sechziger Jahren ging Marshall McLuhan so weit zu
behaupten, daß der Inhalt jedes Mediums ein anderes Medium sei. Seine
provozierende These läßt sich anhand von Richard Hamiltons "just what is
it that makes today's homes so different, so appealing?" (1956) einleuchtend illustrieren. In der Collage aus
verschiedenen Werbeprospekten, eine Karikatur eines modernen Wohnzimmers,
befindet sich neben zahlreichen anderen elektronischen Konsumartikeln auch ein
Fernseher; auf dem Bildschirm eine Frau mit einem Telephon. Der Inhalt der
Collage sind offensichtlich andere Medien und deren soziale Auswirkungen. Es
geht Hamilton um die Veränderungen von Wahrnehmung und Kommunikation in einer
immer stärker mediatisierten Realität, und nicht etwa um das Thema des
Telephongesprächs. Auch die Malerei von Matthias Groebel verfolgt dieses
Prinzip des post-medialen Bildes, für das Peter Weibel den Begriff der
"Pittura immedia" gefunden hat. Es ist bekannt, daß Malerei
ebensowenig ein unmittelbares Bild der Realität transportiert wie Kino oder
Fernsehen; sie ist kein transparentes Fenster zur Welt, sondern ein durch
subjektive Filter und technische Vorrichtungen immer schon manipuliertes.
"Pittura immedia" steht für einen künstlerischen Entstehungsprozeg,
der verschiedene Medien durchläuft und an dessen Ende Malerei steht. Denn
Matthias Groebels Bilder erfüllen alle herkömmlichen Standards des
abendländischen Tafelbildes, die sich vor etwa 700 Jahren ausgebildet haben:
Keilrahmen, Leinwand, Pigmente, Vertikalität, Transportierbarkeit. Was sie von
klassischer Malerei unterscheidet, ist die fehlende "Hand des
Künstlers", früherer Garant der Authentizität der Kunst. Vielmehr sind sie
die materiellen Träger mehrfacher elektronischer und digitaler Transfers. Die
Idee des autonomen Künstler- oder Wissenschaftler-Subjekts, das aus sich selbst
heraus schafft, ist obsolet, seit sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß die
neuen Medien unsere Wahrnehmung, unser Denken und Verhalten strukturieren und
verändern. So haben sich Theoretiker wie Luhmann oder Lévy-Strauss
dementsprechend mit Computern verglichen, die aus vorhandenen Daten neue
Gedanken generieren. Den Rohstoff für Matthias Groebels Arbeiten liefern
Fernsehprogramme. Aus dem gespeicherten und digitalisierten Filmmaterial wählt
Groebel Standbilder und auch Texte aus und unterzieht diese am Computer
verschiedenen, für den Betrachter nicht unbedingt erkennbaren Manipulationen.
Bei der Bildauswahl vermeidet er soweit wie möglich jene
Wiedererkennungseffekte, die der Betrachter als Zitate auffassen könnte:
Serienhelden fehlen in seiner lkonographie ebenso wie historische Aufnahmen.
Die Ausgabe dieser Daten erfolgt über eine Apparatur, die vom Künstler selbst
für diesen Zweck entwickelt wurde: eine computergesteuerte Airbrushpistole
sprüht Acrlyfarben in mehreren lasierenden Schichten auf eine Leinwand.
Matthias Groebel kaschiert nicht die mediale Herkunft seiner Malerei, sondern
verdeutlicht sie noch durch die Vergrößerung der Motive auf ungefähr natürliche
Größe. Das flächige Mosaik des gepixelten Computerbildschirms wird auf seinen
Bildern noch unschärfer und zeichnet sich durch "low definition" aus.
Mit der technisch bedingten Unschärfe entsteht paradoxerweise eine malerische,
pointillistische Qualität, nicht unähnlich frühen piktorialistischen
Fotografien. Eine Generation von Kunstfotografen hat um die Jahrhundertwende zu
zeigen versucht, daß eine Unschärfe, die sich durch verschiedene Manipulationen
erreichen ließ, den künstlerischen Wert der Fotografie steigere: je weniger
ausdifferenziert die Fakten, desto stärker der Eindruck beim Betrachter.
Mediengeschichtlich scheint die Unschärfe eine Konstante zu bilden, die von
Künstlern vorwiegend eingesetzt wurde, um den medialen Anteil der Bilder zu
verschleiern und den malerischen zu betonen. In den Arbeiten von Matthias
Groebel weist jedoch gerade die Unschärfe auf den medialen Ursprung der Bilder
hin. Diese Steigerung der visuellen Eigenschaften des
Fernsehbildes ist vergleichbar mit der Strategie Warhols und Lichtensteins, die
Rasterpunkte ihrer Bildvorlagen aus Zeitungen oder Comics so zu vergrößern, daß
sie für das bloße Auge erkennbar werden. Fernsehbild und Comic sind beide durch
Flächigkeit und geringe Detailgenauigkeit gekennzeichnet; "kühle
Medien" in der Analyse McLuhans, die auf Grund ihres geringen
Präzisionsgrades eine besonders intensive Beteiligung des Betrachters
verlangen. Der Rezipient versucht, die lückenhaften Daten zu ergänzen. Gerade
die Brüche und Diskontinuitäten im Informationsstrom steigern seine Brüche und
Diskontinuitäten im Informationsstrom steigern seine Partizipation. Dadurch,
daß Matthias Groebel das fliegende Fernsehbild fixiert und vergrößert, kommt es
zu einem qualitativen Sprung der Bildwahrnehmung. im Standbild und durch die
Wahl eines Ausschnitts kommen neue Strukturen, die im Ablauf des Films
unsichtbar bleiben, zum Vorschein, vergleichbar mit einer Zeitlupenaufnahme,
die vorher nie wahrgenommene Bewegungsabläufe sichtbar macht. Es wird möglich,
das optisch-unbewußte Sehen zu sehen. Gleichzeitig hält die Auflösung der Motive in fein
gesprühte Punkte und transparente Farbflächen den Betrachter in einer gewissen
Distanz zu den Figuren, trotz ihrer Lebensgröße; ein Perzeptionsphänomen, das
man mit Walter Benjamin als "eine Ferne, so nah sie auch sein mag"
beschreiben kann. Auch durch größere Annäherung an die Leinwand gelingt es dem
Auge nicht, den Blick zu fokussieren, das Bild "schärfer zu stellen"
, detailreicher zu sehen und in die Tiefe zu dringen. Der voyeuristische Impuls
gerät notwendigerweise an eine wahrnehmungsphysiologische Grenze, "painted
walls", wie auf einem der Bilder zu lesen ist. Die Distanz des Betrachters
wird noch gesteigert durch die standardisierten Bildformate, die die
Dargestellten wie eine Zelle umschließen. Meist handelt es sich um einzelne
Personen, die aus dem Kontext einer Handlung und ihrer räumlichen und sozialen
Umgebung isoliert sind. Ein großer Teil der Arbeiten ist durch hineinkopierte
Schrift gleichsam kommentiert. Der White Trash, aus dem sich das Personal der
Bilder rekrutiert, wird durch Begriffe wie "Date of Crime",
"Glass", oder "The whole sky"; wie in einer fingierten Anthropologie
beschrieben und definiert. Zugleich transformiert die assoziativ-poetische
Qualität der Wörter das ausschnitthaft festgehaltene Geschehen in eine
alptraumhafte, klaustrophobische Irrealität, die an Filme von David Cronenberg
und David Lynch erinnert und in der die Differenz zwischen Dokumentation und
Fiktion zur Ununterscheidbarkeit zusammenfällt.
Barbara Heß, 1997 |